Die Lebensbedingungen auf Industriebrachen werden im Wesentlichen von ähnlichen Faktoren geprägt wie an natürlichen Gewässern: Vegetationsausstattung, Wasserführung und Größe, Uferstruktur und Untergrund der Gewässer. Dennoch unterscheiden sie sich in ihrer Ausprägung von natürlichen Gewässern: Industriebrachengewässer sind Extremlebensräume. Sie verlangen von den sie besiedelnden Organismen spezielle Anpassungen oder besondere Fähigkeiten. Diese Besonderheiten werden auf den folgenden Seiten dargestellt.
Austrocknen – Leben unter Zeitstress
Libellenlarven verbringen ihr Leben bis zur letzten Häutung im Wasser – das bedeutet, dass für die Dauer ihrer Entwicklung das Gewässer, in dem sie leben, Wasser führen muss. Dies heißt aber nicht, dass regelmäßig austrocknende Gewässer nicht für Libellen geeignet sind – es gibt zahlreiche Arten, die ihren Entwicklungszyklus an eine kurzzeitige Wasserführung angepasst haben und dort einen Konkurrenzvorteil anderen Arten gegenüber besitzen. Ausdauernde und temporäre Gewässer haben aus diesem Grund oftmals unterschiedliche Artenspektren. Der hohe Anteil an austrocknenden Gewässern auf Industriebrachen ist ein Grund für die hohen Artenzahl – und auch für das Vorkommen einiger Rote-Liste-Arten.
Damit bleiben für die Entwicklung der Libellenlarven nur einige Wochen oder Monate. Vor allem Binsenjungfern– und Heidelibellenarten haben sich auf solche Gewässer spezialisiert:
Es folgt über den Herbst und den Winter ein Entwicklungsstop (Diapause) und die Überwinterung findet im Ei statt. Erst bei hohem Wasserstand und steigenden Temperaturen im Frühjahr schlüpfen die Larven. Da sich Flachgewässer sehr schnell erwärmen, können die Larven bei gutem Nahrungsangebot mit etwa 8–10 Häutungen sehr schnell heranwachsen und die Larvalentwicklung vor dem Austrocknen des Gewässers beenden. Sollte das Gewässer vorzeitig austrocknen, sind die Larven vieler Arten in der Lage Trockenphasen z. B. durch Eingraben im Schlamm zu überdauern. Damit haben Arten mit kurzen Entwicklungszyklen in solchen Gewässern einen deutlichen Vorteil gegenüber anderen Arten. Ein weiterer Vorteil in temporären Gewässern ist das oftmalige Fehlen von Räubern wie Fischen. Arten mit mehrjährigem Entwicklungszyklus sind nicht in der Lage, temporäre Gewässer zu besiedeln.
Die bereits im (Spät)sommer schlüpfenden Libellenlarven wären nicht in der Lage die Trockenheit dauerhaft zu überstehen.
Wasserchemie – Leben unter Extrembedingungen
Ein Großteil der Gewässer auf typischen „Industriesubstraten” weist hohe pH– und Leitfähigkeitswerte auf. Möglicherweise sind die Böden insbesondere auf Brachen der Stahlindustrie und Kokereien und damit auch ein Teil der Gewässer mit Altlasten belastet. Trotzdem kann aber nicht von einem direkten Einfluss auf die Entwicklung der Libellenlarven ausgegangen werden. Auch in Gewässern mit hohen hydrochemischen Werten konnten sowohl eine Vielzahl an Libellenarten als auch hohe Individuenzahlen bodenständig nachgewiesen werden.
Trotzdem können auf Industriebrachen Verhältnisse herrschen, die es nur noch einzelnen Arten möglich machen sich dort fortzupflanzen. Als Beispiel sei hier die Sinteranlage in Duisburg genannt: Neben pH-Werten zwischen 10 und 12 und Leitfähigkeiten von mehr als 2000 µS (gemessen bei wenigen Einzelmessungen) zeichnen sich die dort vorkommenden Tümpel durch eine sehr kurzzeitige Wasserführung und fehlender Gewässervegetation aus.
Vegetation – spezielle Ansprüche
Hinsichtlich ihrer Vegetationsausstattung sind die Industriebrachen sehr vielfältig und variabel. Das Vorkommen sowie die Kombinationen verschiedener Vegetationsstrukturen wie Tauchblattpflanzen, Schwimmpflanzen, Röhricht oder Ufergehölzen in unterschiedlichen Deckungsgraden führen insgesamt zu einem sehr hohen Strukturreichtum. Für Libellen spielt die Vegetation eine zentrale Rolle: sie dient
Und jede Art stellt hieran andere Asprüche. Somit bedeutet hohe Strukturdiversität ein großes Ressourcenangebot und damit potentiellen Lebensraum für eine Vielzahl von Arten. Als optimal hat sich eine hohe Zahl verschiedener Vegetationstrukturen bei mittlerer Deckung herausgestellt, also eine Kombination vielfältiger Vegetationseinheiten mit größeren, freien Wasserflächen. Solche Verhältnisse treten im mittleren bis fortgeschrittenen Sukzessionsstadium auf. Tatsächlich kommen hier auch die höchsten Artenzahlen vor – ebenso wie der größte Anteil an Rote-Liste-Arten.
Sukzession – Hohe Dynamik
Es kommen die verschiedensten Sukzessionsstadien vom Pionier– bis zum Verlandungsstadium auf Industriebrachen vor. Neben einigen Arten wie der Großen Pechlibelle, die in allen Stadien auftreten, sind andere Arten charakteristisch für bestimmte Sukzessionsstadien.
Pionierstadium
Geringe Vegetationsdeckung und –strukturarmut im Gewässer sind in diesem Stadium ebenso charakteristisch wie offene Uferbereiche. Typisch sind hier die Kleine Pechlibelle und der Plattbauch, die neu entstandene Gewässer schnell besiedeln können.
Mittleres Sukzessionsstadium
An Gewässern im mittleren Sukzessionsstadium ist die Vegetation bereits gut ausgeprägt, die Deckung aber noch nicht zu dicht, so dass es auch große freie Wasserflächen gibt. Die Ufer sind meist vollständig besonnt, da Schatten werfende Gehölze in der Regel fehlen. An diesen Gewässern ist die Strukturdiversität hoch und sie zählen sowohl zu den artenreichsten als auch zu den Gewässern mit den meisten Habitatspezialisten. Sehr zahlreich und häufig tritt hier der Große Blaupfeil auf. Zu den typischen Arten temporärer Gewässer dieses Sukzessionsstadiums zählen die Südliche, die Kleine oder die Glänzende Binsenjungfer.
Fortgeschrittenes Sukzessionsstadium
Auch im fortgeschrittenen Stadium kann es eine hohe Strukturdiversität geben, insbesondere wenn es sich um großflächige Gewässer handelt. Dort entstehen differenzierte Pflanzengesellschaften mit Röhrichtgürteln, Submers– und Schwimmblattvegetation sowie Ufergehölzen. Hier treten zum Beispiel Hufeisen-Azurjungfer, Kleines und Großes Granatauge auf.
Verlandungsstadium
Kleine Flachgewässer können insbesondere durch dichten Röhrichtbewuchs sehr schnell ins Verlandungsstadium übergehen. Freie Wasserflächen verschwinden und die Strukturvielfalt nimmt mehr und mehr ab. Der Vierfleck und die Gemeine Binsenjungfer sind typische Arten. An austrocknenden Gewässern kommt auch häufiger die Gefleckte Heidelibelle vor. Durch einen schnellen Sukzessionsverlauf können die Gewässer einem schnellen Wandel unterliegen – was auch zu einer hohen Dynamik im Artenspektrum führt.
Künstliche Gewässer – Leben im Wasserbecken
Gewässer auf Industriebrachen sind anthropogene Sekundärgewässer. Auf Halden, Lagerflächen oder vergleichbaren Brachen weisen diese Gewässer meist natürliche Habitatstrukturen hinsichtlich Uferbeschaffenheit, Vegetationsausstattung und Umgebung auf. Auf Werksgeländen kommen dagegen verschiedene Becken vor, die in Beton– oder Stahlwände gefasst sind und deren Vegetation entweder fehlt und zumindest teilweise angepflanzt ist – die also künstliche Habitatstrukturen besitzen. Die Artenzahlen sind an solchen Becken deutlich geringer als an Tümpeln oder Kleinweihern und das Artenspektrum ist meist gewöhnlich. Rote Liste-Arten kommen nur selten vor, können sich in Einzelfällen dort aber auch fortpflanzen.
Die Eignung eines Beckens als Fortpflanzungshabitat für Libellen hängt besonders von der Vegetation ab: An vielfältig bewachsenen Becken sind mehrere Arten in oft auch größerer Individuenzahl vertreten.
Vegetationsfreie Becken weisen dagegen in der Regel geringere Arten– und Individuenzahlen.
Künstliche Habitatstrukturen – Ökologische Fallen?
Auf vielen Industriebrachen, speziell auf ehemaligen Werksgeländen, findet man oft eine Vielzahl künstlicher Habitatstrukturen, wohingegen natürliche mehr oder weniger fehlen. Beispiele sind zur Anlage gehörende Stahlteile, Zäune und Geländer, Gleise, künstliche Beckenwände und ähnliches. Auch Müll in und an den Gewässer in Form von Flaschen, Eimern, Holzpaletten u.ä. findet man auf vielen Brachen. Auf den ersten Blick lassen solche Strukturen vermuten, dass man dort vergeblich nach Libellen suchen kann, da diese Gewässer viel zu naturfremd wirken. Wagt man aber einen zweiten Blick und schaut genau hin, lassen sich viele spannende Entdeckungen machen. Häufig wurde beobachtet, dass Libellen solche Strukturen als Sitzwarte oder Schlupfsubstrat nutzten, so dass diese zumindest für einige Arten fehlende natürliche Strukturen ersetzen können:
Allerdings lauern auch einige Gefahren, die den Fortpflanzungserfolg einschränken oder eine Entwicklung ganz verhindern: